Das Quadrat in Bewegung

Katrin Draxl

Mit vierzehn Jahren besteht Helga Philipp an der damaligen Akademie für Angewandte Kunst die Aufnahmeprüfung. Nach zwei Jahren Vorbereitungsklasse lernt sie bei Hans Knesl von 1955/56 bis 1961 Bildhauerei. Knesl legt großen Wert auf das „Sich Finden des Studierenden in der ihm adäquaten Form“1. Dement­sprechend weisen einige Arbeiten aus Philipps Studienzeit bereits auf ihr späteres Werk hin. Ein zweiteiliges Tonmodell – fotografiert bei unterschiedlicher Beleuch­tungs­situation – thematisiert die später wichtig werdende Rolle des Lichteinfalls. Eine in weißem Gips ausgeführte Plastik erinnert in ihrer biomorphen Organizität an Arbeiten von Hans Arp oder Brancusi und zeigt Philipps Vorliebe für Zweiheit, das Dialogische in der Arbeit selbst – ein Prinzip, das sich später auf die Wechsel­wirkung zwischen Objekt und Betrachter ausdehnen wird.
Reizvoll bis irritierend für das Auge präsentieren sich die ersten nach ihrem Studium entstandenen Arbeiten der damals dreiundzwanzigjährigen Helga Philipp. Den Bereich des Organisch-Plastischen verlassend beginnt sie, zeitgemäße künstlerische Aspekte wie Reihung, Permutation und wahrnehmungspsychologische Überlegungen in der Grafik und im Objekt umzusetzen. In einer zwölfteiligen Sieb­druckserie, deren Struktur sich von dem des Schachbrettmusters ableitet, verzerrt Philipp in unterschiedlichen Variationen die Proportionen der einzelnen Rechtecke und erreicht so eine Irritation des Auges. Manche Blätter erzeugen einen optischen Sog in die Tiefe oder scheinen sich in den Raum hervorzuwölben. Ein zusätzlicher optischer Effekt ist die durch das Muster hervorgerufene Interferenz in der Wahr­nehmung, auch Flimmereffekt genannt. Durch schnelle, kaum wahrnehmbare Augenbewegungen des Betrachters kann der Eindruck entstehen, das Muster selbst bewege sich. Bewegung und damit Zeit werden in die ästhetische Reflexion des Betrachters miteinbezogen. In diesem Sinne gehen die frühen Arbeiten Philipps mit dem Anspruch der kinetischen Kunst konform, Zeit nicht nur abzubilden, wie dies die Futuristen taten, sondern auch ästhetisch zu produzieren.
Philipp erweitert die Siebdrucke durch breite Holzrahmen und Verglasung zum Objekt. Auf der Glasplatte wird das Motiv des Siebdruckes mittels Klebefolie wiederholt. Die Struktur wurde dadurch verdoppelt und ermöglicht einen zusätzlichen Bewegungsaspekt: Die Muster verschieben sich je nach Standortänderung des Betrachters gegeneinander, der somit aktiv am Geschehen beteiligt wird. In einem weiteren Schritt ersetzt Philipp den Siebdruck durch eine reflektierende Metallplatte und erzielt nun die Doppelung des Musters durch Spiegelung. Gleich­zeitig wird der Betrachter in den optisch erweiterten Bildraum miteinbezogen, sich selbst gegenübergestellt.
In den folgenden Jahren entstehen hinsichtlich Größe und Farbigkeit Variationen der ersten als Multiples konzipierten kinetischen Objekte, mit denen Philipp auch an ihrer ersten Galerieausstellung gemeinsam mit Marc Adrian in der Galerie Wulffengasse, der späteren Galerie Heide Hildebrandt in Klagenfurt, teilnimmt. Mit zwei kinetischen Objekten ist sie im Jahr 1965 bei den „Neuen Tendenzen 3“ in Zagreb vertreten. Damit zählt sie zur Riege der konkreten und konstruktiven Künstler und der Kinetiker, deren Arbeiten folgende gemeinsame Charakteristika aufweisen: den Einsatz neuer Medien (Siebdruck, Klebefolie, Glas); die damit einhergehende Entindividualisierung der Arbeiten; die Beschränkung auf konkrete Formen, die für sich selbst stehen; jene Bewegung, die werkinhärent durch die Variation der Komposition in Anlehnung an das Prinzip der modularen und seriellen Ordnungen von Richard Paul Lohse2 entsteht und das Moment der Bewegung, welches das Auge des Betrachters mit dem kinetischen Objekt verbindet.
Besonders diesen zweiten Aspekt von Bewegung verarbeitet Kurt Kren in dem ebenfalls im Jahr 1965 entstandenen drei Minuten langen Film „11/65 Bild Helga Philipp“, in dem er einen der oben beschriebenen Siebdrucke der Künstlerin ab­filmt. Kren überträgt die Bewegung des Betrachters vor dem Werk auf die Kamera und nützt die erweiterte Beweglichkeit des „künstlichen Auges“. Indem er die Be­wegung der Kamera nicht nur horizontal, sondern auch auf der Vertikalen und auf den Diagonalen über den Siebdruck bewegt, befreit er den Blick, der ansonsten an die Bewegung des Betrachters gekoppelt ist, und enthüllt ein potenzielles Mehr an Bewegung in Philipps Arbeit.
In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre entstehen weitere kinetische Objekte, in denen Philipp ihr Formenvokabular erweitert. Sie transformiert das Quadrat des Schachbrettmusters in mehreren Schritten zur Raute, dreht es gleichsam an der Diagonalen entlang in den Raum. Zunächst nur schwarze, dann auch rote und blaue Quadrate und Rauten reiht sie in zyklischen Permutationen aneinander, lässt sie einander überlappen und erzeugt so zunächst scheinbar willkürliche Muster. Wesentlich an Philipps Arbeitsvorgang ist dabei aber das von Beginn an ­festgelegte Programm, bestehend aus den Grundelementen, die eine Formreihe ergeben, und den auf sie angewandten Operationen wie Änderung der Orientierung der Diagonal­achsen, Progression und Degression.
Den Schritt zur völligen Transparenz ihrer Arbeiten macht Philipp, indem sie zwei Plexiglasscheiben mit je einem roten und einem blauen Muster bedruckt und hintereinander montiert. Frei im Raum schwebenden farbigen Plättchen gleich konstituieren sich diese Plexiglasarbeiten wiederum erst durch die Bewegung des Betrachters. Einige dieser Arbeiten sind im April 1968 in der Gruppenausstellung „adrian philipp kriesche“ in der Galerie nächst St. Stephan und im Dezember 1968 bei Helga Philipps erster Personale „Kinetische Objekte“ im Forum Stadtpark in Graz zu sehen.

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1  Patka, Erika: Kunst: Anspruch und Gegenstand. Von der Kunstgewerbeschule zur Hochschule   für Angewandte Kunst in Wien 1918 – 1991, Salzburg und Wien 1991, S. 199.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2  Siehe dazu: Lohse, Richard Paul: Modulare und Serielle Ordnungen, Zürich 1984.